Maria Valtorta, Der Gottmensch, Leben und Leiden
unseres Herrn Jesus Christus, Pisani Italien (1943-47), Parvis
Verlag, Hauteville, CH, 1991, Band I-XII
(Seitenangaben beziehen sich auf Format
A4, Geneva 9 point, 3 cm Rand)
Band I
46. Die Reise nach Bethlehem
S. 153
- S. 154/5:
«Nein, ich dachte
ich denke
» Maria ergreift die Hand Joseph
s und sagt mit einem seligen Lächeln: «Ich denke, dass gerade jetzt die Zeit gekommen ist.»
- «Gott der Barmherzigkeit! Was machen wir?»
- «Habe keine Angst, Joseph
! Sei geduldig! Siehst du, wie ruhig ich bin?»
- «Aber du leidest doch wohl sehr.»
- «O nein! Ich bin voller Freude. Eine Freude, so gross, so stark, so schön und unfassbar, dass mein Herz ganz laut schlägt und zu mir sagt: 'Er kommt! Er kommt!' Es sagt dies bei jedem Schlag. Es ist mein Kind, das an mein Herz pocht und spricht: 'Mama, ich bin hier und komme, dir den Kuss Gottes zu geben.' Oh, welch eine Freude, mein Joseph
!»
- Aber Joseph
ist nicht so freudetrunken. Er denkt an die Dringlichkeit, eine Unterkunft zu finden, und beschleunigt seine Schritte. An jeder Tür fragt er. Alles besetzt. Sie kommen zur Herberge. Diese ist überfüllt bis unter die primitive Säulengänge, die den grossen Innenhof umgeben. Alles voller Leute, die biwakieren.
47. Die Geburt
Jesu, unseres Herrn S. 157
- S. 158:
Ein feiner Mondstrahl dringt durch einen Spalt in der Decke und scheint wie eine körperlose, silberne Klinge Maria zu suchen. Sie wird mit dem Höhersteigen des Mondes immer grösser, so dass sie schliesslich das Haupt der Betenden erreicht und es mit einem strahlenden Glanz umgibt.
- Maria hebt das Haupt, wie einer himmlischen Stimme folgend, und wirft sich von neuem auf die Knie. Oh, Wie schön ist sie jetzt! Ihr Haupt scheint im weissen Licht des Mondes zu strahlen, und ein übernatürliches Lächeln verklärt sie. Was sieht sie? Was hört sie? Was empfindet sie? Nur sie allein könnte sagen, was sie sieht, hört und empfindet in der leuchtenden Stunde ihrer Mutterschaft. Ich sehe nur, dass um sie herum das Licht stärker und immer stärker wird. Es scheint vom Himmel zu kommen: es scheint von den ärmlichen Dingen rings um sie herum auszugehen; es scheint vor allem, dass sie selbst es ist, die es ausstrahlt.
- S. 159:
einen Morgenstern, einen Chor von Lichtatomen, die anwachsen, wachsen wie eine Meeresflut, die steigen, aufsteigen wie Weihrauch, die herniederfallen wie ein Strom und sich ausbreiten wie ein Schleier
- Die Decke volle Risse, Spinngewege, hervorspringender Trümmer, die in der Schwebe hängen wie ein statisches Wunder
, rauchgeschärzt und abstossend, erscheint nun wie das Gewölbe eines königlichen Saals. Jeder Stein wirkt wie ein silberner Block, jeder Riss wie das Schimmern eines Opals
, jedes Spinngewebe wie ein kostbarer Baldachin, durchwirkt mit Silber und Diamant
en. Eine grosse Eidechse, die sich zwischen zwei Felsstücken im Winterschlaf befindet, scheint ein Smaragd
zu sein, der dort von einer Königin
vergessen wurde, und eine Traube von schlafenden Fledermäusen sieht aus wie ein kostbarer Leuchter von Onyx. Das Heu, das von der höheren Krippe herabhängt, ist kein Gras mehr: es sind Fäden aus reinem Silber, die in der Luft mit der Anmut aufgelöster Haare zittern.
- Die darunterliegende Krippe in ihrem groben Holz ist ein Block von gebräuntem Silber geworden. Die Wände sind bedeckt mit einem Brokat
, in dem der Glanz der weissen Seide unter den perlfarbigen Verzierungen verschwindet. Und der Boden?
Was ist aus dem Boden geworden? Ein von weissem Licht erhellter Kristall
. Die Buckel sind wie Lichtrosen, die als Ehrenbezeigung auf den Boden gestreut wurden, und die Löcher wie kostbare Kelche, aus denen Wohlgerüche aufsteigen.
- Das Licht wird stärker und stärker. Es wird für das Auge unerträglich. In ihm verschwindet, wie von einem weissglühenden Lichtschleier verhüllt, die Jungfrau
und kommt aus ihm hervor als die Mutter.
- Ja, als das Licht für meine Augen wieder erträglicher wird, sehe ich Maria mit ihrem neugeborenen Sohn auf den Armen. Ein Kindlein, rosig und mollig, das sich bewegt und mit seinen Händchen - gross wie Rosenknospen - herumfuchtelt und mit seinen Füsslein zappelt, die im Herzen einer Rose Platz hätten. Es wimmert mit einem zitternden Stimmlein, gerade wie ein eben geborenes Lämmlein, und zeigt beim Öffnen des Mündleins, das klein wie eine Walderdbeere ist, ein gegen den Gaumen zitterndes Zünglein. Ein Kindlein, das sein Köpfchen bewegt, das die Mutter in ihrer hohlen Hand hält, während sie ihr Kindlein betrachtet und anbetet, weinend und freudig zugleich. Sie neigt sich, um es zu küssen, nicht auf das unschuldige Haupt, sondern tiefer, mitten auf die Brust, dort, wo das Herzchen schlägt
ja, für uns schlägt
dort, wo eines Tages die Wunde sein wird. Sie heilt sie schon im voraus, die Wunde; sie, die Mutter, mit ihrem unbefleckten Kuss.
- S. 160:
Auch Joseph
, der wie verzückt innig betet, so dass er all dem entzogen schien, was ihn umgab, kommt nun zu sich und sieht durch die vor das Gesicht gehaltenen Finger das eigenartige Licht durchscheinen, hebt den Kopf und dreht sich um. Der stehende Ochse verbirgt Maria. Aber sie ruft: «Joseph, komm!» Joseph eilt hin
aber, als er sieht, was geschehen ist, hält er von Ehrfurcht überwältigt inne und will auf die Knie fallen. Aber Maria wiederholt: «Komm Joseph!» und stützt sich mit der Linken auf das Heu, während sie mit der Rechten das Kind an ihr Herz drückt; sie erhebt sich und geht Joseph entgegen, der sich verlegen nähert, hin- und hergerissen zwischen dem Verlangen hinzugehen und der Furcht, unehrbietig zu sein.
- An der Lagerstätte begegnen sich die beiden Verlobten und blicken sich an in seligem Weinen.
- «Komm, wir wollen Jesus dem Vater aufopfern!» sagt Maria.
- Und während Joseph
niederkniet, hält Maria, die aufrecht zwischen den beiden das Gewölbe tragenden Pfosten steht, ihr Kind in die Höhe und spricht: «Hier bin ich. Für ihn, o Gott, sage ich dir diese Worte: 'Sieh, hier bin ich, deinen Willen zu tun. Und mit ihm, ich, Maria, und Joseph, mein Bräutigam. Sieh, o Herr, deine Diener! Möge an uns immer und in jeder Stunde dein Wille geschehen zu deiner Ehre und aus Liebe zu dir.'» Dann neigt sich Maria und sagt: «Nimm, Joseph!» und bietet ihm das Kind an.
- «Ich? Mir? O nein! Ich bin nicht würdig!» Joseph
ist verwirrt, vernichtet bei dem Gedanken, Gott zu berühren.
- Maria aber besteht lächelnd auf ihrem Wort: «Du bist dessen wohl würdig. Niemand mehr als du, und deswegen hat der Allerhöchste dich erwählt. Nimm, Joseph
, und halte es, während ich die Windeln hole!»
- Joseph
, rot wie Purpur, streckt die Hände aus, nimmt das Bündelchen Fleisch, das vor Kälte schreit, und nachdem er es einmal in den Armen hat, verharrt er nicht weiter in seiner Absicht, es aus Ehrfurcht weit von sich zu halten; er drückt es an sein Herz und sagt unter reichlichen Tränen: «Oh! Herr! Mein Gott!»